Sinti* und Roma* wurden im Nationalsozialismus verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Zehn Nachkomm*innen von Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau sprechen über das Leid und die Widerstandskraft ihrer Vorfahr*innen. Sie berichten, wie ihre Familien und persönlichen Lebenswege von dieser Geschichte geprägt wurden und wie sie sich heute für die Erinnerung, Anerkennung und gegen Diskriminierung einsetzen.
Die Erinnerung an den Völkermord an den Sinti* und Roma*, an die Folgen, Kontinuitäten und Brüche nach 1945 finden bis heute wenig Beachtung. Die Zahl der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti* und Roma* wird auf bis zu einer halben Million geschätzt. Allein nach Auschwitz wurden 23.000 Angehörige der Minderheit deportiert, davon sind 21.000 ermordet worden oder durch die tödlichen Lagerbedingungen ums Leben gekommen. Heute sind Sinti* und Roma* in Deutschland von massiver Diskriminierung betroffen. Trotzdem oder gerade aus diesem Grund kommen sie in öffentlichen Debatten selten zu Wort.
Sinti*
Die Bürger*innenrechtsbewegung der deutschen Sinti* und Roma* kämpfte jahrzehntelang für die Anerkennung ihrer Selbstbezeichnung. Das deutsche Begriffspaar »Sinti und Roma« umfasst zum einen die Minderheit der Sinti*, die seit dem frühen 15. Jahrhundert in Deutschland leben, und zum anderen die Minderheit der Roma*, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Deutschland einwanderten.
Das verwendete Gender-Sternchen unterstreicht die Anerkennung der Geschlechtervielfalt. Gegenwärtig wird darüber diskutiert, welche Form des Genderns für die Selbstbezeichnung der Sinti* und Roma* als respektvoll und angemessen gilt. In diesem Zusammenhang finden auch die gegenderten Pluralformen Sinti*zze und Rom*nja Verwendung.
Historischer Hintergrund
Sinti* sind eine deutsche Minderheit. Seit über 600 Jahren leben sie in Deutschland. Schon vor dem Nationalsozialismus waren sie von Ausgrenzung betroffen. In der NS-Zeit erreichte die rassistische Verfolgung eine neue Dimension. Mit den »Nürnberger Gesetzen« wurden Sinti* und Roma* als »Fremdrasse« ausgegrenzt und die 1936 eingerichtete »Rassenhygienische Forschungsstelle« sammelte systematisch Daten über Minderheitsangehörige. Nach der Verschleppung in kommunale Zwangslager begann 1940 die Deportation in Konzentrationslager und Ghettos.
Mit dem »Auschwitz-Erlass« vom Dezember 1942 wurden dann über 20.000 Sinti* und Roma*, darunter über 14.000 Deutsche, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet, zur Zwangsarbeit gezwungen oder in andere Lager verschleppt. Hunderttausende wurden in den Lagern und Ghettos, in Massakern und durch Mordaktionen in ganz Europa getötet.
Die wenigen Überlebenden des Völkermordes kehrten 1945 in ein Land zurück, in dem der Rassismus gegen Sinti* und Roma*, auch Antiziganismus genannt, weiterhin stark verbreitet war. Die NS-Täter*innen wurden (mit einer einzigen späten Ausnahme) nie für ihre Verbrechen belangt. Erst nach jahrelangen Bemühungen der Bürger*innenrechtsbewegung der deutschen Sinti* und Roma* wurde der Völkermord 1982 anerkannt. Bis heute kämpfen Angehörige der Minderheit für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und gegen Diskriminierung.
Zum Projekt
Nach einer Gedenkfahrt mit Sinti* aus Leer (Ostfriesland) im Oktober 2023, organisiert von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz, entstanden in Gesprächen zehn persönliche Texte, zehn Perspektiven. Die Menschen erzählen vom Überleben ihrer Vorfahr*innen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie schildern, wie ihre Familien mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung, den Verlusten und den Folgen umgehen. Bei Recherchen in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und den Arolsen Archives konnten sie zu etwa 30 verfolgten Angehörigen Dokumente wie Sterbeurkunden oder Transport-Bescheinigungen aus anderen Konzentrationslagern finden.
Einige Monate nach der Gedenkfahrt reflektierten die Teilnehmer*innen in nachbereitenden Interview-Gesprächen im Mai 2024 mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ihre Eindrücke und Erfahrungen. Sie werfen in den so entstandenen Texten auch einen Blick auf das erschütternde Ausmaß des heutigen Antiziganismus in Bildung, Gesundheit, Arbeit, Wohnungssuche, in öffentlichen und institutionellen Bereichen. Eindrucksvoll berichten sie von ihrem unermüdlichen Einsatz für Anerkennung und Antidiskriminierung.
1. Sinti-Verein Ostfriesland
Seit 2015 setzt sich der 1. Sinti-Verein Ostfriesland in Leer und in ganz Niedersachsen für die Interessen von Sinti* und Roma* ein und bietet eine Kompetenz- und Anlaufstelle für die Minderheit, wie auch für Institutionen der Mehrheitsgesellschaft.
Der Verein ist Mitglied im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
Seit über 60 Jahren setzt sich Aktion Sühnezeichen Friedensdienste für Erinnerung, Verständigung und Frieden ein. »10 Perspektiven« ist ein Projekt des Arbeitsbereichs »Geschichte(n) in der Migrationsgesellschaft«, der Bildungsangebote zur nationalsozialistischen Geschichte, ihren Kontinuitäten und Folgen entwickelt. Dabei nimmt er Antisemitismus und Rassismus kritisch in den Blick.
Ein wichtiger Schwerpunkt der historisch-politischen Bildungsprogramme liegt auf der vertieften Auseinandersetzung mit dem NS-Völkermord an den Sinti* und Roma* Europas sowie der Sensibilisierung für heutigen Rassismus gegen Angehörige der Minderheit. Dialogische und biografische Methoden öffnen Raum für Gespräche über die Bedeutung der NS-Geschichte für unsere Gegenwart.