Eine Perspektive von Stefan*

»Ich stehe mehr oder weniger zwischen den Stühlen. Mein Vater war Sinto und meine Mutter Ostfriesin. Ich bin also zwischen den Kulturen groß geworden.«

Stefan über seine Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft

Auf den Spuren meiner Großeltern war ich in dem ehemaligen Lager Auschwitz. Der Besuch dort hat eine Menge mit mir gemacht. Ich bin der Mehrheitsgesellschaft gegenüber misstrauischer geworden und nehme leicht dahergesagte dumme Sprüche wesentlich schärfer auf. Wenn ich mir die politische Situation in Deutschland anschaue, sehe ich da ganz klar Parallelen. Ich mache mir Gedanken um die Zukunft.

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Stefan, von Beruf Dachdecker, arbeitet seit zwei Jahren im 1. Sinti-Verein Ostfriesland e.V.

Höre in das Gespräch mit Stefan hinein.
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Am Gedenkort für die ermordeten Sinti* und Roma* im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Oktober 2023.

Privat bewege ich mich mehr in der Mehrheitsgesellschaft. Zunächst hatte ich eigentlich nie das Gefühl, dass ich von der Mehrheitsgesellschaft als Sinto gesehen wurde. Aber wenn im Freundeskreis etwas verschwunden ist, dann fiel der erste Verdacht immer auf mich. Ich bin heute der Überzeugung, dass, wenn Menschen den Befehl bekommen würden, auch meine Freunde mich ins KZ schicken würden.

Ich binde es nicht jedem gleich auf die Nase, dass ich Sinto bin, aber ich verstecke es auch nicht.

Über die Jahre ist mein Misstrauen gewachsen und ich habe die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, nicht gleich an die große Glocke zu hängen, dass ich Sinto bin.

In meiner Lehre – damals war ich noch jung und naiv – da habe ich es allen erzählt. Und als dann ein Werkzeugkoffer verschwunden ist, waren sich die Kollegen einig, dass ich den gestohlen habe. Ein halbes Jahr später kam heraus, dass ein Altgeselle es getan hat. Bei mir hat sich nie jemand entschuldigt. Solche Erfahrungen führten mit der Zeit dazu, dass ich heute zurückhaltender bin. Aber ich verstecke mich deswegen auch nicht.

Die Mehrheitsgesellschaft hat kein Interesse an meiner Geschichte. Ausnahmen gibt es vielleicht unter den Leuten, die sowieso open minded sind. Aber aufrichtiges Interesse erlebe ich nicht. Die Mehrheitsgesellschaft kümmert sich am liebsten um sich selbst. Die meisten Menschen sehen ja auch keinen Grund, sich selbst zu hinterfragen.

Stefan über seine Erfahrungen als Sinto in der Schule

In der siebten Klasse auf der Realschule, da war ich gerade einmal zwei Monate auf der neuen Schule, wurde ich ins Direktorat gerufen. Ich war ein schüchterner, eher zurückhaltender Schüler. Der Direktor verkündete mir, dass ich die Schule verlassen müsse, weil ich Mitschüler um Schutzgeld erpressen würde. Danach habe ich diese Schule verlassen. Es gab viele schlechte und nur wenige gute Erfahrungen.

Eine gute Erfahrung machte ich in der neunten Klasse in meiner Geschichts-AG. Ich habe mich beschwert, dass zwar erwähnt wurde, dass Juden und Kommunisten von den Nazis verfolgt wurden, aber nirgendwo auch nur ein Wort über Sinti oder Roma gesprochen wurde. Da habe ich mich eingemischt und betont, dass auch Sinti von der NS-Verfolgung betroffen waren. Mein Geschichtslehrer ermutigte mich, ein Referat darüber zu schreiben. Er hat damals wirklich Interesse gezeigt, hat mein Referat in der Schule ausgehängt und das Thema in den folgenden Jahren in seinen Unterricht aufgenommen, obwohl es nicht im Lehrplan steht.

Die Vorurteile sind sehr stark. Da gab es früher Reime wie diesen: »Haltet die Mülltonnenplätze sauber und rein – ihr wollt doch nicht wie die Z sein!« Das ist bis heute in den Köpfen drin. Die Leute sagen es heute vielleicht nicht mehr so offen, aber hinter vorgehaltener Hand heißt es trotzdem, wir klauen Kinder und so weiter. Das habe ich als Kind selbst oft gehört. Wenn mein Vater, der sehr dunkel ist, mit mir, seinem blonden Kind, durch die Straßen gelaufen ist, musste er sich wirklich oft anhören, dass er mich geklaut hätte.

Anmerkung

Der Autor entscheidet sich, das Wort mit »Z« abzukürzen, da er die diskriminierende Wirkung des Begriffes nicht erneut erzeugen möchte.

Stefan über das Trauma seiner Großeltern

Mein Großvater war in Auschwitz. Als der dort rauskam, hatte er einen Knacks. Er war verbittert von der Erfahrung im Lager. Danach war er kein liebevoller Mensch. Mein Vater hat ihn immer respektiert, aber es war eine schwierige Beziehung. Mein Vater hatte dann auch diese Art, dass ihm, wenn er wütend wurde, die Worte fehlten und er dann noch wütender wurde. Das transgenerationale Trauma, das hat er auch an mich weitergeben. Wir haben nie wirklich über diese Zeit gesprochen.

Auch meine Eltern konnten mit ihren Eltern nicht darüber sprechen. Die haben immer abgeblockt, schnell das Thema gewechselt. Ich kann heute besser nachfühlen, warum die alte Generation so verbittert war. Ich habe einige Überlebende kennengelernt.

Wenn man Auschwitz überlebt hat, dann wirft das dein ganzes Lebensgefühl, dein Sicherheitsgefühl über den Haufen.

Ein Überlebender, der mich immer sehr beeindruckt, ist Christian Pfeil. Er ist in einem Außenlager von Auschwitz geboren. Und trotzdem ist er so ein positiver Mensch. Er sagt: »Was soll ich denn machen? Es bringt mich auch nicht weiter, wenn ich den ganzen Tag jammere.« Diese Einstellung finde ich bewundernswert. Die meisten Überlebenden können das nicht.

Meine Großmutter ist vor meiner Geburt gestorben. Ich habe nur Gutes über sie gehört. Auch sie war in Auschwitz, nach dem Aufstand vom Mai 1944 wurde sie dann deportiert. Sie kam nach Ravensbrück und überlebte einen Todesmarsch. Kurz vor der Befreiung war sie wieder in Auschwitz. Wenn ich daran denke, wie dieses Mädchen – sie war erst 17 Jahre alt – wie sie das alles überlebt hat!

Stefan über die Gedenkfahrt nach Auschwitz

Die Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz-Birkenau hat mich wirklich sehr berührt. Auf diesen Wegen zu laufen, in dem Wissen, dass meine Großmutter auch hier gelaufen ist und was sie erleiden musste, allein die Vorstellung auf dem gleichen Boden zu stehen wie sie, das war sehr hart für mich. Ich war danach sehr in mich gekehrt und habe mich zurückgezogen. Ich bin so ein Mensch, der große Gefühle gerne mit sich selbst ausmacht. Später habe ich mit guten Freunden über meine Erlebnisse gesprochen. Die haben sich auch für meine Familiengeschichte interessiert. Meine ostfriesische Familie war leider weniger interessiert.

Stefan über die politische und seine persönliche Zukunft in Deutschland

Ich bin wütend, dass meine Großmutter das erleben musste, und ich verspüre einen Hass auf die Täter von damals. Gleichzeitig bin ich fest überzeugt, dass, wenn die AfD an die Macht kommt, es nicht lange dauert und wir wieder zusammengetrieben werden. Diese Aussicht besorgt mich sehr. Ich lasse mich auf keinen Fall einsperren, eher würde ich versuchen, das Land zu verlassen. Doch es ist meine Heimat hier. Ich fühle mich in Ostfriesland wirklich heimisch. Wenn die AFD von Remigrationsplänen tönt, dann sage ich oft scherzhaft: Schiebt mich doch nach Ostfriesland ab, damit habe ich kein Problem.

Sie behaupten zwar, dass sie die Gutintegrierten in Ruhe lassen würden, aber ich glaube ihnen kein Wort. Sie werden sich wieder gegen Menschen mit Behinderung, gegen Juden, gegen Sinti richten und alle verfolgen, die nicht in ihr Bild passen.

Remigration

Die selbsternannte Neue Rechte verwendet den eher unscheinbar anmutenden Begriff der »Remigration« für die Ausweisung, Vertreibung und Deportation von Menschen mit Migrationsgeschichte. Im November 2023 wurden bei einem geheimen Treffen von Rechtsextremen, darunter Politiker*innen der AfD und der Neuen Rechten, die Vertreibung von ausländischen sowie deutschen Staatsbürger*innen mit Migrationsbezügen besprochen.

Diese menschen- und demokratiefeindlichen Pläne wurden durch Recherchen des Medienhauses Correctiv aufgedeckt und erlangten dadurch breite öffentliche Aufmerksamkeit, unter anderem führten sie zu Protesten und Demonstrationen.

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Hier sprechen zehn Sinti* über ihre Familiengeschichten, die Folgen des NS-Völkermords und ihr Engagement gegen Antiziganismus heute.