Eine Perspektive von Nancy*

»In der siebten Klasse habe ich mich als Sintezza geoutet. Es war eine ganz zufällige Situation.«

Nancy über die Bedeutung von Auschwitz für ihre Familie

In meiner Kindheit erinnere ich mich an eine ältere Frau, die Tante meines Großvaters. Sie reagierte immer sehr heftig, wenn jemand Essen wegwarf. Sogar die Kartoffelschalen wollte sie nicht entsorgen, die kochte sie zu einer Brühe. Später habe ich erfahren, dass sie im Konzentrationslager gewesen ist. Damals sprach sie jedoch nie über ihre Erfahrungen. Wie hätte sie auch darüber sprechen können?

Sie äußerte nie ein gutes Wort über die Deutschen. Ihre Enkeltochter ließ sie nicht in den Kindergarten gehen. Sie sagte immer: »Du weißt ja nicht, was sie dort mit den Kindern anstellen!« Auch mir sagte sie, ich solle nichts über mich oder meine Familie erzählen. Das habe ich damals nicht verstanden, ich war ja erst fünf Jahre alt.

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Nancy, 28 Jahre, aus Leer, arbeitet seit fünf Jahren als Bildungsbegleiterin für den 1. Sinti-Verein Ostfriesland. Nach einer Ausbildung zur pädagogischen Fachkraft begleitet sie Kinder und Jugendliche in Kindergärten und allgemeinbildenden Schulen.

Höre, wie Nancy über Diskriminerung in ihrer Schulzeit und über die Gedenkfahrt nach Auschwitz spricht.
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Nancy (links) besucht im Oktober 2023 zusammen mit Sinti* aus Leer (Ostfriesland) das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

In letzter Zeit habe ich viel mit meiner Mutter über diese Erinnerungen gesprochen. Heute kann ich besser nachvollziehen, warum unsere älteren Menschen damals so verschlossen waren. Das Misstrauen gegenüber Institutionen wie Kindergarten und Schule wurde auch an die nächste Generation weitergegeben.

Als wir letztes Jahr in der Gedenkstätte in Auschwitz waren, fühlte ich mich beim Anblick des riesigen Lagergeländes so machtlos, so klein, wie eine Ameise. Ich war sprachlos und versuchte, mir die Menschenmassen, das unvorstellbare Leid und das Blut, das hier auf der Erde vergossen wurde, vorzustellen.

Wären wir damals mit unseren Vorfahren dort gewesen, hätten wir nicht überlebt. Dieses Gefühl der Ohnmacht begleitete mich noch viele Wochen.

Ich kann verstehen, warum unsere älteren Verwandten diese Zeit lieber totgeschwiegen und ihre Erinnerungen mit ins Grab genommen haben. Wer würde schon freiwillig erzählen, wie er sich vor Tausenden von Menschen entblößt hat oder wie er sie alle nackt gesehen hat?

Nancy über Diskriminierung in der Schule und ihr Engagement als Bildungsbegleiterin

In der siebten Klasse habe ich mich als Sintezza geoutet. Es war eine ganz zufällige Situation. Ein Junge aus meiner Klasse, der ebenfalls Sinto war, sprach mich in unserer Sprache an, und ich antwortete reflexartig ebenfalls in unserer Sprache. Unsere Lehrerin bemerkte dies und sagte: »Ach, du bist dann auch eine.« Dann wollte ich es auch nicht abstreiten. Warum sollte ich mich auch dafür schämen? Also sagte ich: »Ja, ich bin Sintezza.« Die Lehrerin war überrascht: »Ich dachte die ganze Zeit, dass du Italienerin bist.« Danach behandelte die Lehrerin mich nur noch mit Vorurteilen: »Du heiratest sowieso mit 15 und bekommst fünf Kinder. Was willst du noch hier in der Schule?« Ich wurde in die hintere Reihe gesetzt.

Eine Woche später behandelten wir in der Schule den Film Schindlers Liste. Ein Mitschüler machte eine abfällige Bemerkung: »Hitler hätte dich als Erste vergast!« Es war eine schreckliche Zeit für mich. Doch diese schmerzhaften Erfahrungen haben mich auch stärker gemacht. Um meinen Realschulabschluss zu erlangen, habe ich fünf Jahre gebraucht – andere schaffen dies vielleicht in zwei Jahren – aber ich habe es geschafft und bin daran gewachsen.

Romanes

Viele deutsche Sinti* sprechen Romanes, auch Romnes genannt. Die Sprache ist circa 2.000 Jahre alt und seit Generationen ein wichtiger Teil der kollektiven Identität der deutschen Minderheit. Sie ist als Minderheitensprache in Deutschland anerkannt und geschützt.

Heute motivieren mich meine eigenen Erfahrungen in der Schule, anderen Kindern zu helfen, damit sie nicht aufgrund ihres Nachnamens als Sinti abgestempelt werden. Derzeit betreue ich ein Sinti-Mädchen, das schlimme Diskriminierung von einer Lehrerin erlebt hat. Sie war so traumatisiert, dass sie nicht mehr zur Schule gehen wollte und sich die Haare ausgerissen hat.

Deshalb möchte ich den Lehrer*innen und der Mehrheitsgesellschaft sagen: Wir sind Menschen. Wir haben nur eine andere Kultur. Wir sind friedlich. Natürlich gibt es auch bei uns Menschen, die Fehler machen – wie überall. Wir möchten einfach nur die Chance erhalten, uns frei zu entfalten.

Diese ständigen Sprüche, wir sollen uns anpassen, unsere Sprache nicht sprechen, unsere Kultur nicht leben, diese Sprüche müssen aufhören. Lasst uns einfach leben.

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Hier sprechen zehn Sinti* über ihre Familiengeschichten, die Folgen des NS-Völkermords und ihr Engagement gegen Antiziganismus heute.