Eine Perspektive von Maria*

»Es hat richtig geschmerzt an diesem Ort zu sein, sich vorzustellen, was die Menschen damals empfunden haben, wie viele hier waren und wie wehrlos sie waren.«

Maria über die Gedenkfahrt nach Auschwitz und die Bedeutung des Ortes für ihre Familiengeschichte

Ich hatte immer schon ein Bild von Auschwitz im Kopf. Aber ich hatte nicht gedacht, dass es so riesig ist. Nach dem langen Rundgang über das Lagergelände taten uns die Füße weh, aber wir haben uns nicht beschwert. Bei dem Gedanken an das, was hier passiert ist – es war so heftig und grausam – da fehlen mir die Worte. Ich trage viele Bilder in meinem Kopf. Die Geschichten kamen mir alle wieder in den Sinn, als wir dort waren. Trotzdem, so riesig habe ich mir das Lager nicht vorgestellt. Wir sind dort den Turm hoch und von dort überblickt man das ganze Gelände und ich war wirklich sprachlos.

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Maria, 45 Jahre, Sintezza, lebt im Moormerland im Landkreis Leer (Ostfriesland). Maria ist Mutter von vier Kindern.

Höre, wie Maria erzählt, wie in ihrer Familie über Auschwitz gesprochen wurde.
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Maria (Mitte) besucht die Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Im Hintergrund das ehemalige Torhaus. Oktober 2023.

Wir gingen über das Gelände und hörten von dem Guide, was den Menschen angetan wurde. Meine Kinder kamen immer näher zu mir, mein Sohn, meine drei Töchter. Wir sind näher zusammengerückt. Es hat richtig geschmerzt an diesem Ort zu sein, sich vorzustellen, was die Menschen damals empfunden haben, wie viele hier waren und wie wehrlos sie waren.

Die Tante meines Vaters hatte eine Nummer auf dem Arm. Wenn wir abends zusammengesessen haben, hat sie viel erzählt. Dann haben wir zugehört, meine Geschwister und ich.

Nummern in Auschwitz

Bei der Ankunft in Auschwitz-Birkenau wurden die Menschen von der SS selektiert. Diejenigen, die nicht sofort ermordet wurden, wurden zu Häftlingen des Lagers gemacht. Sie erhielten eine Häftlingsnummer und diese Nummer wurde den Menschen auf den Arm tätowiert. Sinti* und Roma* wurde vor der Nummer noch der Buchstabe »Z« eintätowiert, um ihre Zugehörigkeit zu dieser Häftlingsgruppe zu kennzeichnen.

Die Nummern, die anstelle von Namen verwendet wurden, waren Teil der systematischen Entmenschlichung, die darauf abzielte, die Identität der Häftlinge zu zerstören und die Menschen auf Objekte der Ausbeutung und der Vernichtung zu reduzieren.

Sie wurde damals ohne Betäubung sterilisiert und konnte deshalb keine Kinder bekommen. Sie hat diese Geschichten erzählt und uns liefen die Tränen. Als ich in der Ausstellung in der Gedenkstätte die Kindersachen gesehen habe, musste ich viel an ihre Geschichten denken.

Der Onkel meiner Mutter war schon ein bisschen älter. Ich habe den Enten einmal ein Stück hartes Brot hingeworfen. Da schimpfte er mit mir, das Brot hätten wir doch noch essen können. Und dann fing er an vom Lager zu erzählen, welchen Durst und Hunger sie gelitten haben, was sie alles gegessen haben, um etwas im Magen zu haben. Er erzählte nie so direkt die ganze Geschichte. Aber immer wieder kam er auf das Thema. Und was er erzählte, war grausam. Er sagte immer, es ist egal, wie arm wir sind, wir dürfen froh sein, dass wir gesund sind, und die wenigen Dinge, die wir haben, müssen wir wertschätzen.

Zwangssterilisation

Im Nationalsozialismus wurden basierend auf der NS-Rassenideologie viele Sinti* und Roma* zwangssterilisiert. Ab 1934 wurden Zwangssterilisationen in Krankenhäusern vorgenommen und mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« begründet. Mit der Deportation wurden viele Sinti* und Roma* wie auch Jüdinnen und Juden in den Konzentrationslagern Opfer von Zwangssterilisationen. In Auschwitz-Birkenau führten Ärzte gewaltvolle medizinische Experimente durch, mit denen sie u.a. Methoden der Sterilisation erforschten.

Er hat Körbe geflochten und dabei hat er uns dann wieder ein paar Geschichten erzählt. Ich war vielleicht sieben Jahre alt. Manchmal fing er an zu weinen. Dann kam meine Mutter. Sie meinte, wir seien noch zu klein für die Geschichten und brachte uns nach drüben. Die Geschichten vergesse ich nie.

Maria über eigene Diskriminierungserfahrungen

Ich habe es oft gespürt, dass ich wegen meiner Hautfarbe, meiner Herkunft anders behandelt werde. Beim Einkaufen steht da schnell jemand neben mir und schaut genau, dass ich auch nichts einstecke.

Ein Erlebnis war besonders schlimm: Ich war mit meinen Kindern einkaufen, wir standen an der Kasse, die Verkäuferin kam zu mir und behauptete, dass ich Hausverbot hätte. Das war eine Frechheit! Und auch so peinlich für mich. Meine Kinder schauten beklemmt auf den Boden. Ich sagte leise zur Verkäuferin, dass sie mich bestimmt verwechselt. Dann habe ich meinen Personalausweis herausgeholt und das Missverständnis aufgeklärt. Die Leute hinter mir in der Schlange, die haben gewartet und uns deutlich gezeigt, dass sie genervt sind.

Es war so unangenehm, wie alle uns angeschaut haben. Wir haben uns so geschämt.

Mein Sohn hat nach diesem Vorfall sogar Freundschaften verloren. Die Eltern haben danach gesagt »Wir dachten ihr seid Italiener, aber nein, mit Z soll unser Kind nicht spielen.« Acht Jahre hatten wir schon dort im Dorf gewohnt und nie Probleme gehabt. Nach diesem Vorfall begannen die Kinder aus dem Dorf unsere Familie zu meiden. Wir haben das Gespräch gesucht und manche haben sich später auch entschuldigt, aber trotzdem, war unser Gefühl im Dorf nie wieder wie vorher.

In meiner Schulzeit habe ich auch Situationen erlebt, in denen die anderen mir deutlich machten, dass wir nicht dazugehören. Zum Beispiel als ich mit 14 Jahren begann Röcke zu tragen. Da wurde ich in der Schule ausgelacht und als Z beschimpft. Es ist immer wieder das Gleiche! Ich kam nach Hause, habe geweint und wollte nicht mehr zur Schule gehen. Der Lehrer hat angerufen, warum ich nicht mehr komme, aber er hat mich auch nicht beschützt.

Anmerkung

Die Autorin entscheidet sich, das Wort mit »Z« abzukürzen, da sie die diskriminierende Wirkung des Begriffes nicht erneut erzeugen möchte.

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Hier sprechen zehn Sinti* über ihre Familiengeschichten, die Folgen des NS-Völkermords und ihr Engagement gegen Antiziganismus heute.