Eine Perspektive von Angelina*

»Mein Onkel wurde in Auschwitz geboren, und mein Großvater war gerade einmal fünf Jahre alt, als er nach Auschwitz deportiert wurde. Schon lange hegte ich den Wunsch, diesen Ort einmal mit eigenen Augen zu sehen.«

Angelina über die Gedenkfahrt nach Auschwitz

Als ich schließlich in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau war, war es unfassbar schwer. Mich überkam eine Gänsehaut. In mir war nur noch ein Gefühl: tiefe Trauer. Meine Vorfahren sind auf diesen steinigen Wegen gegangen und ich konnte nur daran denken, dass sie damals keine festen Schuhe hatten.

Zusammen mit einer Gruppe von dreißig Sinti aus Leer haben wir eine Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz gemacht. Wir sind alle direkte Nachfahren von Überlebenden und Menschen, die dort ermordet wurden. Es war eine intensive, sehr emotionale Reise für mich. Ich konnte nicht schlafen, auch nachts gingen mir die Eindrücke nicht aus dem Kopf. Abends saßen wir noch zusammen und haben über unsere Eindrücke gesprochen. Es war eine bedrückende Stimmung. Ich bin froh, dass ich in dieser Gruppe zusammen mit anderen Nachfahren dort war. Da war gleich dieses Verständnis im Raum, dass ich mit Fremden bei diesem Thema nicht verspüre.

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Angelina, 32, Sintezza aus Leer (Ostfriesland), arbeitet als Bildungsbegleiterin im 1. Sinti-Verein Ostfriesland e.V. Nach einer Ausbildung zur pädagogischen Fachkraft begleitet sie Kinder und Jugendliche in Kindergärten und allgemeinbildenden Schulen. Angelina ist Mutter von zwei Kindern.

Höre, wie Angelina über die Gedenkfahrt nach Auschwitz spricht.
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Angelina (3.v.r.) besucht im Oktober 2023 gemeinsam mit Sinti* aus Leer das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ihre Großeltern waren hier inhaftiert und haben das Lager überlebt.

Viele meiner Vorfahren haben Auschwitz nicht überlebt. Ihre Namen entdeckte ich auf einer Tafel in der Ausstellung im Stammlager zum Völkermord an den Sinti und Roma. Dort sind die Namen der Menschen aufgelistet, die in Auschwitz ermordet wurden – sofern ihre Namen bekannt sind.

Die Dimension der Verbrechen bleibt für mich unvorstellbar.

Bei meinem Besuch im Stammlager von Auschwitz empfand ich es als bedrückend, dass dieser Ort heute eine Ausstellung ist. Natürlich muss dieser Ort für die Erinnerung erhalten bleiben, doch hinterlässt es bei mir ein seltsames Gefühl, dass heute jeder dorthin gehen und den Ort besuchen kann.

Im ehemaligen Häftlingsblock 27 besuchte ich auch die Ausstellung über die jüdischen Opfer. Die Räume dort sind riesig, und einer davon war komplett leer. Es waren nur Kinderstimmen zu hören – Originalaufnahmen, wie sie reden, lachen und singen. Ich stand in diesem Raum und fragte mich, warum er so leer ist. Dann erst bemerkte ich die Kinderzeichnungen an den Wänden. Die Künstlerin Michal Rovner hat die Zeichnungen mit Bleistift nachgezeichnet. Als ich diese Bilder sah, wurde der Tod in diesem Raum für mich so greifbar. 1,5 Millionen jüdische Kinder wurden ermordet.

Stammlager von Auschwitz

Der Lagerkomplex von Auschwitz bestand aus dem Konzentrationslager Auschwitz I (Stammlager), dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II), sowie weiteren Nebenlagern. Auschwitz I wurde 1940 in den Gebäuden einer ehemaligen polnischen Kaserne errichtet. 1947 entstand auf dem Gelände von Auschwitz I und II das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Heute werden im ehemaligen Stammlager thematische Dauerausstellungen gezeigt.

Mein Opa hat mit mir nie über seine Zeit im Lager gesprochen. Wie viele Überlebende wollte auch er nicht darüber sprechen. Das, was mein Opa überlebt hat, war so grausam. Die Scham der Erinnerung macht das Sprechen unmöglich.

Mein Onkel, der in Auschwitz geboren wurde, sprach auch nur über die Zeit nach der Befreiung. Er war noch so klein, hatte überlebt und kam zurück, doch da war keine Erleichterung. Sinti waren nach dem Krieg in Deutschland nirgendwo willkommen. Seine Familie musste von Ort zu Ort reisen, wurde immer wieder vertrieben. Diese leidvolle Zeit hat meinen Onkel sehr geprägt. Letztlich hat er mit seiner Familie hier in Leer Fuß gefasst.

Angelina über die fehlende Thematisierung der Verfolgung in Schulen

In den Schulen wird die Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma kaum thematisiert. Mein Sohn ist mittlerweile fast 15 Jahre alt und seine Klasse hat das Thema Nationalsozialismus bisher noch nicht behandelt. Auch während meiner Schulzeit wurde dieser Aspekt der Geschichte nur oberflächlich besprochen, Sinti und Roma wurden gar nicht erwähnt.

Das ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte und trotzdem wird es in den Schulen überhaupt nicht wahrgenommen. Das empfinde ich als äußerst bedenklich.

Als Bildungsbegleiterin an der Schule stelle ich immer wieder fest, dass Kinder den Begriff »Nazis« verwenden, ohne zu wissen, was er tatsächlich bedeutet. Deshalb spreche ich häufig über die Geschichte und versuche, die Kinder aufzuklären.

Angelina über ihr Engagement gegen Antiziganismus

Antiziganismus ist eine Realität, der wir immer wieder begegnen. Früher habe ich oft nachgegeben und die Äußerungen der Leute unkommentiert gelassen. Heute jedoch bin ich davon überzeugt, dass wir uns dagegen wehren müssen. Wir Frauen sind stark und haben gelernt, wie wir uns zur Wehr setzen können. Es ist unsere Aufgabe, diese Entschlossenheit auch an unsere Kinder weiterzugeben.

Leider erleben auch meine Söhne häufig antiziganistische Diskriminierung. So wurde mein Sohn beispielsweise in seinem Fußballverein gemobbt und ausgeschlossen. Das hat mir als Mutter das Herz gebrochen. Viele Kinder haben Schwierigkeiten in der Schule, weil Lehrer rassistische Vorurteile haben. In solchen Fällen intervenieren wir als Bildungsbegleiterinnen, um unsere Kinder zu schützen und die Lehrer zu sensibilisieren.

Antiziganismus

Antiziganismus ist eine spezifische und historisch gewachsene Form des Rassismus: Vorurteile, Stereotypisierungen, Diskriminierung, Hetze und gewaltvolle Übergriffe gegen Sinti* und Roma* werden als Antiziganismus bezeichnet. Die Bezeichnung ist in Deutschland umstritten, da sie die diskriminierende Bezeichnung »zigan« enthält. Alternativ wird oft von Rassismus gegen Sinti* und Roma* gesprochen. Der Rassismus trifft auch Menschen, die als Angehörige der Minderheit wahrgenommen werden, aber selbst nicht Sintezza, Sinto, Romni oder Rom sind.

Seit Jahrhunderten gibt es Antiziganismus. Im Nationalsozialismus gipfelte er in dem Völkermord an den Sinti* und Roma* Europas. Auch heute ist Antiziganismus in Deutschland stark verbreitet: 40 Prozent der Befragten stimmen der Aussage »Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten entfernt werden« zu (Leipziger Autoritarismus-Studie 2024). Antiziganismus wirkt auch institutionell und strukturell, zum Beispiel in Behörden, im Bildungs- und Gesundheitswesen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Bei der Polizei zeigt sich institutioneller Antiziganismus durch diskriminierende Personenkontrollen aufgrund vermeintlicher oder tatsächlicher Zugehörigkeit zur Minderheit.

Immer wieder kommt es vor, dass die Polizei unsere Kinder grundlos auf der Straße anhält. Es kommt vor, dass zwölfjährige Kinder, nur weil sie zu zweit durch die Stadt laufen, ohne Anlass einer Ganzkörperkontrolle unterzogen werden. Diese Vorfälle dokumentieren wir und melden sie bei MIA, der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus. Wir haben auch eine Tagung organisiert, um die Polizei für das Problem des Racial Profiling zu sensibilisieren. Es ist wichtig, dass unser Verein sich sichtbar gegen den Antiziganismus in Leer einsetzt.

MIA

Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus vertritt die Interessen der Betroffenen und erfasst, analysiert und dokumentiert antiziganistische Vorfälle auf ihrer Webseite www.antiziganismus-melden.de

Ich engagiere mich, um die Zukunft unserer Kinder zu verbessern, damit sie ein besseres Leben führen können, ohne aufgrund ihres Nachnamens Schwierigkeiten zu haben, eine Wohnung zu finden oder einen guten Schulabschluss zu machen.

Unsere Kinder sollen in einer Welt leben, in der sie ihre Kultur und ihre Identität als Sinto oder Sintezza nicht verbergen müssen. Die Hoffnung und der Optimismus, die mir unsere Kinder geben, motivieren mich, den Kampf fortzusetzen.

Wähle eine Perspektive

Hier sprechen zehn Sinti* über ihre Familiengeschichten, die Folgen des NS-Völkermords und ihr Engagement gegen Antiziganismus heute.