Eine Perspektive von Charmaine*

»Ich bin eine Deutsche und es ist mir wichtig, dass die Mehrheitsgesellschaft versteht, dass wir Sinti ebenfalls Deutsche sind. Wir leben die Kultur der Sinti neben der deutschen Kultur.«

Charmaine über Sinti als Teil der deutschen Gesellschaft

Die Sinti-Kultur – oder das, was von ihr nach dem Völkermord im Nationalsozialismus noch übriggeblieben ist – steht nicht im Widerspruch zur allgemeinen deutschen Kultur in unserer Heimat. Aus den Lagern sind damals vor allem junge Menschen zurückgekehrt und ein großer Teil unserer alten Kultur ist mit den ermordeten älteren Menschen verloren gegangen.

Wir möchten als Deutsche anerkannt werden, weil wir seit Jahrhunderten Teil dieser Gesellschaft sind. Es muss sich da etwas ändern: Wir wollen nicht mehr als »anders« wahrgenommen werden. Wir verlangen keine Besserstellung, sondern einfach Gleichbehandlung und Respekt auf Augenhöhe. Um das zu erreichen, ist ganz offensichtlich noch viel Aufklärungsarbeit notwendig. Viele Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft wissen nicht, wer Sinti oder Roma sind und kennen die Unterschiede zwischen den Gruppen nicht.

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Charmaine, 42 Jahre, arbeitet als Bildungsbegleiterin im 1. Sinti-Verein Ostfriesland e.V. Nach einer Ausbildung zur pädagogischen Fachkraft begleitet sie Kinder und Jugendliche in Kindergärten und allgemeinbildenden Schulen. Charmaine ist Mutter von zwei Kindern.

Höre in das Gespräch mit Charmaine hinein.
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Charmaine (2.v.r.) besucht die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Ihre Großeltern waren hier inhaftiert.

Charmaine über die Bedeutung von Auschwitz für ihre Familiengeschichte

Meine Großeltern waren beide Überlebende des Aufstands vom 16. Mai 1944 im Lager Auschwitz-Birkenau. An diesem Abend plante die SS, alle Sinti in Auschwitz zu ermorden. Doch sie hatten nicht mit dem entschlossenen Widerstand unserer Vorfahren gerechnet. Die SS wurde gezwungen abzubrechen. In den darauffolgenden Tagen und Wochen trennte sie die kräftigeren von den schwächeren Häftlingen und deportierte die Kräftigen in andere Lager.

Die Nazis hatten ja alles unternommen, um die Menschen in Auschwitz gefügig zu machen. Bei der Ankunft in Auschwitz ließen sie an manchen Tagen sogar Geigenmusik spielen, um den neuen Häftlingen die Illusion zu vermitteln, dass die Umstände hier im Lager doch nicht so schlimm seien. Anfangs durften die Häftlinge sogar Briefe nach Hause schreiben – natürlich zensiert. Die Nazis versuchten mit ausgeklügelten Mitteln, die Menschen ruhig zu halten. Trotzdem leisteten die Sinti am 16. Mai 1944 Widerstand. Aus Archivdokumenten haben wir letztes Jahr erfahren, dass meine Großeltern an diesem ersten Aufstand beteiligt waren. Sie hatten uns nie davon erzählt. Nach dem Aufstand wurden sie, weil sie noch jung und kräftig waren, selektiert und weiterdeportiert. Die Schwächeren, die in Auschwitz zurückblieben, wurden dann in der Nacht vom 2. auf den 3. August alle ermordet.

Meine beiden Großeltern wurden nach Ravensbrück gebracht. Dort wurden sie auf einen der Todesmärsche geschickt. Sie haben diesen Marsch gemeinsam überlebt, durchgestanden und fanden später ihren Weg hierher nach Leer. Viele in unserer Community in Leer sind Nachkommen der Überlebenden dieses Aufstands. Diese Geschichte erfuhren wir erst durch die Dokumente aus den Archiven in Auschwitz.

Aufstand vom 16. Mai 1944

Am 16. Mai 1944 wollte die SS den Lagerabschnitt B II e, in dem ausschließlich Sinti* und Roma* festgehalten wurden, auflösen und alle ermorden. Die Betroffenen wurden jedoch von anderen Häftlingen gewarnt und bewaffneten sich mit Werkzeugen und anderen Gegenständen. Der Aufstand der Sinti* und Roma* zwang die SS, die Mordaktion zu verschieben. Viele Häftlinge wurden in den folgenden Wochen in andere Lager deportiert. Die zurückgebliebenen 4.300 Menschen wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern in Birkenau ermordet. Der 2. August ist heute der europäische Gedenktag für den Völkermord an den Sinti* und Roma*.

Viele Familien, einschließlich meiner eigenen, wären also heute nicht hier, wenn es diesen Aufstand nicht gegeben hätte. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Heute denke ich oft darüber nach, warum wir es gewohnt sind, uns zu verteidigen. Diese Haltung haben wir von unseren Eltern und sie wiederum von ihren Eltern gelernt.

Eine Kindheitserinnerung kommt mir hierbei in den Sinn: In den Sommerferien reisten wir oft mit dem Wohnwagen. Und dann hieß es manchmal: »Habt Acht, die Nazis kommen.« Junge Männer kamen dann auf unseren Platz und versuchten, uns zu vertreiben. Wir Kinder hatten große Angst, daran erinnere ich mich noch heute. Meine Eltern und die Mitreisenden haben uns dann verteidigt. Das erinnert mich an den Aufstand in Auschwitz, als sich unsere Großeltern auch mutig verteidigten.

Dies ist für mich nicht einfach eine Geschichte, die vergangen ist. Solange Überlebende leben, die diese Ereignisse miterlebt haben, bleibt sie aktuell.

Charmaine über die Gedenkfahrt nach Auschwitz

Um mehr über die Geschichte zu erfahren, habe ich die Gedenkstätte Auschwitz besucht. Der Besuch in Birkenau war die Hölle für mich. Die Bilder des Sonderkommandos, die Fotos von Menschen, die kurz vor ihrer Ermordung in den Gaskammern standen, und der Mann, der die Kamera versteckt hatte – diese Bilder haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Die Baracken und die bedrückende Vorstellung, dass die Häftlinge selbst bei Krankheit und Schwäche zum Appell antreten mussten, waren grausam und erschütternd.

Mir war vor unserem Besuch in Auschwitz nicht bewusst, in welchem Ausmaß auch die Polen unter den Nazis gelitten hatten. Millionen Menschen wurden als Zwangsarbeiter versklavt und erduldeten unvorstellbares Leid. Dieser Besuch hat mir die unermessliche Grausamkeit und das menschliche Leid in den Lagern vor Augen geführt.

Schon von klein auf wurden mir grausame Geschichten aus Auschwitz erzählt. Meine Großmutter berichtete, wie sie ohne richtige Kleidung im Schnee stand, wie sie versuchte, die Kinder zu verstecken, und wie ihr Onkel von Hunden zu Tode gebissen wurde, weil ihm eine Zigarette heruntergefallen war. Mit diesen Geschichten bin ich aufgewachsen.

Uns wurde immer gesagt, dass wir diese Geschichten nicht der Mehrheitsgesellschaft erzählen sollen. Wir sollten nichts über unser Leben oder unsere Familie preisgeben, denn jede Information könne gegen uns verwendet werden.

Fotografien des »Sonderkommandos«

Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden v.a. jüdische Häftlinge im sogenannten »Sonderkommando« von der SS gezwungen, sich an dem Prozess der Verwertung und Beseitigung der Leichname zu beteiligen. 1944 wurden vier Fotografien von Mitgliedern des »Sonderkommandos« heimlich in der Nähe der Gaskammer und des Krematoriums V in Birkenau aufgenommen.

Eines der Fotos zeigt, wie nackte Frauen von SS-Männern in die Gaskammern getrieben werden. Auf weiteren Fotos ist die Verbrennung der Leichen der Opfer der Massenvernichtung in Auschwitz-Birkenau zu sehen. Die »Sonderkommando-Fotografien« wurden aus dem Lager zum polnischen Widerstand geschmuggelt. Sie sind heute ein wichtiges Zeugnis des Völkermordes.

In der Schule habe ich nichts über die NS-Verfolgung der Sinti gelernt. Also begann ich in den letzten Jahren Geschichtsbücher über diese Zeit zu lesen und mir Wissen anzueignen. Jetzt kann ich die Erzählungen meiner Großeltern besser einordnen und verstehen. Heute verstehe ich, woher diese tiefe Angst kommt, dass Informationen über unsere Familien ausgenutzt werden können. Die Nazis haben Stammbäume unserer Familien erstellt, um auch jeden Sinto und jede Sintezza aufspüren zu können. Manche lernten unsere Sprache, stellten sich als Freunde vor und verheimlichten ihre wahren Absichten. Diese Erfahrung prägt uns bis heute.

Charmaine über Antiziganismus heute und ihr Engagement als Bildungsbegleiterin

Mein Vater hat mir immer gesagt, es sei schwierig, mit der Mehrheitsgesellschaft zusammenzuleben. Als Kind konnte ich das nicht verstehen und hielt seine Ansichten für extrem. Doch mit meiner jetzigen eigenen Lebenserfahrung muss ich ihm Recht geben. Wir erleben Ablehnung und teils starken Hass von Seiten der Mehrheitsgesellschaft, oft ohne dass diese Menschen sagen können, warum sie uns ablehnen oder warum sie diesen Hass empfinden. Tatsächlich wissen sie meistens gar nichts über uns.

Mit der Zeit habe ich gelernt, mit dieser Ablehnung umzugehen. Doch als Jugendliche war ich oft sofort in Verteidigungshaltung. In der Schule hatte ich keine Freunde und konnte nicht verstehen, warum das so war. In der Jugend, in der man ohnehin schon genug mit sich selbst zu kämpfen hat, kamen noch viele Anfeindungen hinzu. Ich fühlte mich unverstanden, hilflos und musste mich durchs Leben kämpfen. Das war in meiner Jugend nicht einfach für Sinti-Kinder und ist es auch heute nicht. Es wird meiner Meinung nach heute sogar schwerer.

Besonders als Mutter spüre ich, wie auch meine Kinder mit dieser Ablehnung aufwachsen. Unsere Kinder müssen sich doppelt so hart anstrengen, um das Gleiche zu erreichen wie Kinder aus der Mehrheitsgesellschaft.

Mein Vater ist ein direktes Nachkriegskind. Er wuchs in harten Verhältnissen auf. Seine beiden Elternteile waren Überlebende aus Auschwitz und überlebten den Aufstand vom 16. Mai 1944. Mein Großvater war stark von dieser Zeit geprägt. Die Unmenschlichkeit der Lager hatte ihn hart gemacht und er misstraute der Mehrheitsgesellschaft zutiefst. Zusammen mit meiner Großmutter hatte er 13 Kinder. Für sie war es wichtig, ihre Kinder für das Leben in der deutschen Gesellschaft abzuhärten. Mein Vater hat dieses Misstrauen, wenn auch etwas abgeschwächt, an mich weitergegeben. Es braucht Generationen, um solche Erfahrungen zu verarbeiten.

Als kleines Kind habe ich die Belastungen noch nicht so stark gespürt. Aber sobald ich in die Schule kam, erlebte auch ich den Hass der Mehrheitsgesellschaft. Mein Vater sagte immer: »Die anderen Kinder hassen uns. Du musst lernen damit umzugehen. Da musst du durch.« Er konnte als Nachkriegskind selbst nicht zur Schule gehen, da der Antiziganismus und das Misstrauen nach dem Krieg so stark waren, dass viele Familien immer wieder vertrieben wurden. Auch hier in Leer war die Ausgrenzung hart. Er war Analphabet, was ihn umso entschlossener machte, uns zur Schule zu schicken und darauf zu bestehen, dass wir Lesen und Schreiben lernen. Die Schulzeit war für mich dann eine Quälerei; ich musste mich ständig durchkämpfen. Es galt: »Wenn du schwach bist, gehst du unter.« Es war eine harte Zeit, aber heute bin ich froh und dankbar, dass mein Vater sich immer dafür eingesetzt hat, dass wir in die Schule gehen.

Antiziganismus

Antiziganismus ist eine spezifische und historisch gewachsene Form des Rassismus: Vorurteile, Stereotypisierungen, Diskriminierung, Hetze und gewaltvolle Übergriffe gegen Sinti* und Roma* werden als Antiziganismus bezeichnet. Die Bezeichnung ist in Deutschland umstritten, da sie die diskriminierende Bezeichnung »zigan« enthält. Alternativ wird oft von Rassismus gegen Sinti* und Roma* gesprochen. Der Rassismus trifft auch Menschen, die als Angehörige der Minderheit wahrgenommen werden, aber selbst nicht Sintezza, Sinto, Romni oder Rom sind.

Seit Jahrhunderten gibt es Antiziganismus. Im Nationalsozialismus gipfelte er in dem Völkermord an den Sinti* und Roma* Europas. Auch heute ist Antiziganismus in Deutschland stark verbreitet: 40 Prozent der Befragten stimmen der Aussage »Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten entfernt werden« zu (Leipziger Autoritarismus-Studie 2024). Antiziganismus wirkt auch institutionell und strukturell, zum Beispiel in Behörden, im Bildungs- und Gesundheitswesen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Bei der Polizei zeigt sich institutioneller Antiziganismus durch diskriminierende Personenkontrollen aufgrund vermeintlicher oder tatsächlicher Zugehörigkeit zur Minderheit.

Vor kurzem wurde ich Zeugin eines Polizeieinsatzes gegen Menschen aus unserer Sinti-Gemeinschaft. Bei einer Verhaftung wurden sie von Polizisten zusammengeschlagen, verletzt und mit Tränengas besprüht. Wir alle wurden in Tränengas getränkt. Vor Gericht schilderte ich diese Gewalt und ein Mann aus der Mehrheitsgesellschaft bestätigte meine Aussage. Doch der Richter schenkte unseren Aussagen keinen Glauben. Er bezeichnete sie als »alltagsfremd« und meinte, so etwas könne nicht passiert sein. Alltagsfremd? Der Richter hatte offensichtlich keine Ahnung von dem alltäglichen Antiziganismus, den wir erleben. Der Mann, der als Zeuge ausgesagt hatte, sagte mir nach dem Prozess, dass er nach dieser Erfahrung den Glauben an das deutsche Rechtssystem verloren hat.

Solche Situationen passieren ständig und sind sehr frustrierend. Es fühlt sich an, als hätte unser Leben nicht denselben Wert.

Ein besonders bedrückendes Beispiel für mich war der Fall einer Sinti-Familie mit einem krebskranken Kind. Die Familie hatte alle Therapien ausgeschöpft und kein Geld mehr für eine neue Behandlung. In ihrer Not wandten sie sich an einen Verein, der Familien mit krebskranken Kindern unterstützt. Im Vorstand des Vereins waren alle selbst Eltern von kranken Kindern. Jede Mutter und jeder Vater weiß, was es bedeutet, wenn das eigene Kind leidet. Doch der Vorstand des Vereins lehnte die Aufnahme der Familie in das Hilfsprogramm mit der Begründung ab, dass dieser Verein nicht für Sinti-Kinder sei. Sie wollten lieber ein anderes Kind unterstützen. Dabei saßen die Eltern doch alle im selben Boot! Haben unsere Kinder nicht denselben Wert wie andere?

Als Sintezza, Mutter und Bildungsbegleiterin sehe ich es als meine Aufgabe, meine Kinder auf den Antiziganismus vorzubereiten. Sie müssen lernen, mit den Anfeindungen umgehen zu können. Das bedeutet, zu verstehen, woher die Anfeindungen kommen, und Strategien zu entwickeln, wie sie darauf reagieren können. Es ist wichtig, dass sie sich abgrenzen und nicht auf jede Provokation eingehen. Wenn sie die Anfeindungen zu sehr an sich heranlassen, dann werden sie Schaden nehmen.

Ich erlebe immer wieder, wie Kinder diese große Ungerechtigkeit spüren und welche Wut und Hilflosigkeit das in ihnen auslöst. Es ist nicht leicht, das zu verarbeiten.

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Hier sprechen zehn Sinti* über ihre Familiengeschichten, die Folgen des NS-Völkermords und ihr Engagement gegen Antiziganismus heute.