Eine Perspektive von Michael*

»Ich habe viel über die Menschen nachgedacht, die hier inhaftiert waren und die heute nicht mehr leben. Da kommt auch Wut in mir hoch. Es ist noch schwerer, die Geschichte auszuhalten, gerade weil wir immer noch so stark von Diskriminierung betroffen sind.«

Michael über die Verfolgung seiner Angehörigen und die verwehrte Anerkennung

Meine Großeltern väterlicherseits waren auch in Auschwitz inhaftiert. Meine Großmutter wurde von Auschwitz dann nach Ravensbrück deportiert und von dort auf einen Todesmarsch geschickt. Dieser Todesmarsch begann mit circa 1.200 Häftlingen, von denen lediglich 150 Menschen überlebt haben, darunter meine Großmutter. Neben ihr kamen zwei weitere Überlebende dieses Todesmarsches später nach Leer. Was sie an Leid erlebt haben, möchte ich gar nicht versuchen nachzuempfinden.

Ich glaube, das kann sich niemand vorstellen. Die Menschen sind erfroren, wurden erschossen, weil sie zu schwach waren, um weiter zu laufen, oder sie blieben einfach so liegen und sind an Schwäche gestorben.

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Michael, 57 Jahre, Mitbegründer und 1. Vorsitzender vom 1. Sinti-Verein Ostfriesland e.V. Er engagiert sich seit über 10 Jahren für die Stärkung von Bildung und Teilhabe der Sinti* im Landkreis Leer (Ostfriesland) und Niedersachsen.

Michael (Mitte) besucht zusammen mit einer Gruppe Sinti* aus Leer (Ostfriesland) das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Oktober 2023.

Meine Großmutter ist später schwer erkrankt und bereits 1975 früh verstorben. Damals war ich noch sehr klein. Sie hat, wie viele Überlebende, mit den gesundheitlichen Folgen der Lager und der Todesmärsche zu kämpfen gehabt.

Zudem gab es direkt nach dem Krieg keine Wiedergutmachung für diese Menschen und auch noch keine Bürgerrechtsbewegung. Erst später gab es für manche eine Entschädigung. Zudem wurde die Verfolgung der deutschen Sinti erst 1982 als eine rassistische Verfolgung anerkannt. Erst dann hat sich die Wiedergutmachungspraxis geändert. Meine Großmutter hat das nicht mehr miterlebt.

Bürger*innenrechtsbewegung

Sinti* und Roma* setzten sich nach Kriegsende für ihre Rechte, den Abbau von Diskriminierung und die Anerkennung des Völkermordes ein. Bei Polizei und Behörden gab es eine diskriminierende Sondererfassung. Akten aus dem Nationalsozialismus wurden weiterverwendet, um Überlebenden eine Entschädigung für das Leid in den Konzentrationslagern zu verwehren. Dagegen protestierten Bürgerrechtler*innen aus der Minderheit erfolgreich.

1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die NS-Verbrechen an Sinti* und Roma* offiziell als rassistisch motivierten Völkermord an.

Michael über Diskriminierungserfahrungen in Schule und Arbeitswelt

Als kleiner Junge hatte ich mich auf die Schule gefreut. Andere deutsche Sinti sagten nur »Warts mal ab!«. Als ich dann in der Schule war, wurde meine Vorfreude sofort ausgebremst: Ich musste mich in die letzte Reihe setzen und wurde ignoriert, egal ob ich mich gemeldet habe oder nicht. Zwei, drei Wochen später habe ich dann einfach meine Schulsachen verschenkt. Ich wollte auch nicht mehr in die Schule gehen.

Mein Vater bestand jedoch darauf, dass ich zur Schule gehe, da ich wenigstens Lesen und Schreiben lernen sollte. Er konnte es nicht, weil ihm der Schulbesuch als Kind verboten wurde. Also saß ich dann da in der Schule oder war körperlich anwesend. Aber geistig hatte ich abgeschaltet.

Nach der ersten Klasse in der Grundschule kam ich sofort auf die Sonderschule, wie alle anderen Kinder der deutschen Sinti auch. In der fünften Klasse bekam ich dann eine neue Lehrerin. Diese schrieb etwas an die Tafel, was ich vorlesen sollte. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt noch kein Wort lesen oder schreiben. Die Lehrerin bemerkte schnell, dass ich nicht so dumm war. Sie schenkte mir ein Märchenbuch, mit dem ich dann Lesen und Schreiben lernte.

Diese Lehrerin hat sich für mich interessiert und gab meinem Leben eine neue Richtung. Dieses Glück hatten leider nicht viele deutsche Sinti.

Nach dem Schulabschluss habe ich mich auf Lehrstellen beworben. Wir deutschen Sinti haben alle auch deutsche Namen wie Wagner, Mettbach, Peter usw., die hier in Leer »verbrannt« sind. Leer ist eine kleine Stadt, in der jeder meint zu wissen, dass du Sinto bist, wenn du Wagner heißt.

Trägst Du einen dieser Namen, bekommst du die Wohnung nicht oder es gibt dir keiner einen Job.

Ich habe 150 Bewerbungen abgeschickt und nur Absagen erhalten. Oft gab es auch antiziganistische Sprüche. Also habe ich doch den Weg gewählt, den viele Sinti aus Leer gegangen sind, und mich selbstständig gemacht.

Später habe ich dann doch einmal in Stuttgart gearbeitet. Da wussten die Kollegen nicht, wie sie mich einordnen sollen. Dort war ich dann der dumme Ostfriese und musste mir Ostfriesenwitze anhören, weil sie meinen Familiennamen nicht zugeordnet hatten wie in meiner Heimatstadt Leer. Als ich dann zurück nach Hause kam, war ich sofort wieder der Scheiß-Z.

Mit der Zeit gewöhnt man sich an dauerhafte Diskriminierung. Bei mir prallt das heute einfach ab, es gehört für mich zum Leben dazu.

Anmerkung

Der Autor entscheidet sich, das Wort mit »Z« abzukürzen, da er die diskriminierende Wirkung des Begriffes nicht erneut erzeugen möchte.

Antiziganismus

Antiziganismus ist eine spezifische und historisch gewachsene Form des Rassismus: Vorurteile, Stereotypisierungen, Diskriminierung, Hetze und gewaltvolle Übergriffe gegen Sinti* und Roma* werden als Antiziganismus bezeichnet. Die Bezeichnung ist in Deutschland umstritten, da sie die diskriminierende Bezeichnung »zigan« enthält. Alternativ wird oft von Rassismus gegen Sinti* und Roma* gesprochen. Der Rassismus trifft auch Menschen, die als Angehörige der Minderheit wahrgenommen werden, aber selbst nicht Sintezza, Sinto, Romni oder Rom sind.

Seit Jahrhunderten gibt es Antiziganismus. Im Nationalsozialismus gipfelte er in dem Völkermord an den Sinti* und Roma* Europas. Auch heute ist Antiziganismus in Deutschland stark verbreitet: 40 Prozent der Befragten stimmen der Aussage »Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten entfernt werden« zu (Leipziger Autoritarismus-Studie 2024). Antiziganismus wirkt auch institutionell und strukturell, zum Beispiel in Behörden, im Bildungs- und Gesundheitswesen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, bei der Polizei.

Die Ausgrenzung ist scheinbar selbstverständlich geworden, wobei es jedoch schwer für mich zu sehen ist, wie bereits die Jüngsten immer noch mit dem Antiziganismus zu kämpfen haben. Diesen Umstand zu verändern gilt mein ungebrochenes Engagement.

Wähle eine Perspektive

Hier sprechen zehn Sinti* über ihre Familiengeschichten, die Folgen des NS-Völkermords und ihr Engagement gegen Antiziganismus heute.