Eine Perspektive von Chantal*

»Die Rechtsextremen sind bereit, mit ihrem Hass die Schrecken der Vergangenheit wieder Wirklichkeit werden zu lassen. Wir möchten einfach nur Frieden und eine gute Zukunft für unsere Kinder.«

Chantal über die Gedenkfahrt nach Auschwitz

Meine Urgroßeltern väterlicherseits waren in Auschwitz. Für mich bedeutet diese Erinnerung vor allem Schmerz. Ich weiß, dass meine Familie gequält wurde, dass ihnen unendlich großes Leid und so viel Ungerechtigkeit widerfahren ist. Leider hatte ich nicht die Möglichkeit, meine Urgroßeltern persönlich kennenzulernen. Umso wichtiger war es für mich, den Ort ihres Leids einmal mit eigenen Augen zu sehen. Wir gingen über das Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers und besuchten auch den Lagerabschnitt, in dem sie Sinti und Roma gefangen hielten. Es fällt mir schwer, meine Eindrücke und Emotionen in Worte zu fassen.

Der Weg fühlte sich an, als ob ich schwere Steine auf dem Rücken trug. Es schmerzte mich seelisch und körperlich.

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Chantal, 32 Jahre, arbeitet als Bildungsbegleiterin im 1. Sinti Verein Ostfriesland e.V. Sie engagiert sich als Bildungsbegleiterin und Konfliktvermittlerin in Schulen und unterstützt Sintezze und Romnja, die Hilfe benötigen, bei Arztbesuchen sowie bei Behördengängen. Chantal ist Mutter von zwei Kindern.

Höre, wie Chantal über Diskriminierung bei der Wohnungssuche und durch die Polizei spricht.
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Gedenkfahrt nach Auschwitz: Chantal (vorne links) in einer Häftlingsbaracke im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Oktober 2023.

Die vielen Informationen über das Lager und die schrecklichen Bedingungen dort zu hören, fiel mir sehr schwer. Besonders traurig war für mich die Ausstellung im Stammlager, in der die Kleidung der Kinder und die Schuhe der ermordeten Menschen gezeigt wurden.

Wir haben Quellen aus den Archiven zu meinen Urgroßeltern recherchiert. Da habe ich viel Neues gelernt. Ich habe mich damit vorher nie so genau befasst und ehrlich gesagt auch nicht so genau nachgefragt. Heute interessiert es mich umso mehr, was genau meine Vorfahren erlebt haben.

Chantal über das Ausmaß von Antiziganismus heute

Antiziganismus betrifft unser gesamtes Leben. Bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt, bei Behördengängen, im Krankenhaus oder auf der Straße – überall sind wir damit konfrontiert. Ich habe viele Vorfälle persönlich erlebt. Die Wohnungssuche ist für mich als Sintezza beispielsweise äußerst schwierig. Eine Bekannte, die nicht wusste, dass ich Sintezza bin, hat mir den Kontakt zu einem Immobilienmakler vermittelt. Doch sobald dieser meinen Nachnamen erfuhr, machte er deutlich: Sinti wollen wir hier nicht.

Kinder und Jugendliche aus unserer Community werden oft ohne Anlass einer Polizeikontrolle unterzogen. Sie werden mitten auf der Straße kontrolliert, müssen sich bis auf die Boxershorts ausziehen, und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Solche Demütigungen erleben schon Zehnjährige. Vertrauen in die Polizei? Das Gegenteil ist der Fall – sie haben große Angst.

Antiziganismus

Antiziganismus ist eine spezifische und historisch gewachsene Form des Rassismus: Vorurteile, Stereotypisierungen, Diskriminierung, Hetze und gewaltvolle Übergriffe gegen Sinti* und Roma* werden als Antiziganismus bezeichnet. Die Bezeichnung ist in Deutschland umstritten, da sie die diskriminierende Bezeichnung »zigan« enthält. Alternativ wird oft von Rassismus gegen Sinti* und Roma* gesprochen. Der Rassismus trifft auch Menschen, die als Angehörige der Minderheit wahrgenommen werden, aber selbst nicht Sintezza, Sinto, Romni oder Rom sind.

Seit Jahrhunderten gibt es Antiziganismus. Im Nationalsozialismus gipfelte er in dem Völkermord an den Sinti* und Roma* Europas. Auch heute ist Antiziganismus in Deutschland stark verbreitet: 40 Prozent der Befragten stimmen der Aussage »Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten entfernt werden« zu (Leipziger Autoritarismus-Studie 2024). Antiziganismus wirkt auch institutionell und strukturell, zum Beispiel in Behörden, im Bildungs- und Gesundheitswesen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Bei der Polizei zeigt sich institutioneller Antiziganismus durch diskriminierende Personenkontrollen aufgrund vermeintlicher oder tatsächlicher Zugehörigkeit zur Minderheit.

In der Grundschule ging ich mit meinen drei Cousinen in eine Klasse. Wir unterstützten einander, gaben uns gegenseitig Halt, doch es war trotzdem schwierig, die abfälligen Bemerkungen und Anfeindungen auszuhalten.

Immer wieder hörten wir Sätze wie »Aus euch wird nichts, ihr heiratet ja sowieso bald«. Nach der achten Klasse verließ ich die Schule. Später habe ich meinen Schulabschluss an der Berufsschule nachgeholt.

Leider hat sich die Situation in den Schulen nicht verbessert. In der Klasse meiner Tochter sind vier Sinti-Kinder. Der Lehrer bemerkte dazu: »Vier von euch in einer Klasse, na, das kann ja witzig werden.« Was sollen die Kinder aus solchen Aussagen schließen?

Auch im medizinischen Bereich erfahren wir Diskriminierung. Unsere Anliegen werden oft nicht ernstgenommen und wir stoßen auf taube Ohren. Ärzte nehmen sich keine Zeit für eine gründliche Diagnose, stattdessen verallgemeinern sie: »Ihr habt doch alle immer das Gleiche.« Wir werden einfach in eine Schublade gesteckt.

Ein Neurologe sagte mir einmal: »Ihr habt immer so viel Langeweile. Das bilden Sie sich alles nur ein.« Langeweile? Ich arbeite 39 Stunden in der Woche, habe zwei Kinder und den Haushalt zu bewältigen. Langeweile habe ich bestimmt nicht!

Solche Anspielungen kommen im Krankenhaus häufig vor. Einmal durfte meine Schwester nach einer Behandlung nicht alleine nach Hause gehen. Ich holte sie zusammen mit ihrem Mann ab, und sofort hieß es: »Hier kommt der ganze Clan, um eine Person abzuholen.« Wir waren zwei Personen!

Eine besonders schwere Geschichte ereignete sich kürzlich in einer jungen Familie, die ich begleite. Das Jugendamt kam mit der Polizei zu der Familie nach Hause und nahm die beiden Kinder mit. Man warf dem Vater vor, Drogen zu nehmen und ein Clanmitglied zu sein – ohne Beweise. Zwei Wochen später entschuldigte sich das Jugendamt für ihren Fehler und brachte die Kinder zurück. Die Kleinen waren völlig verstört. Man hatte ihnen gesagt, ihre Mutter sei in den Urlaub gefahren. Der ältere Sohn, fünf Jahre alt, bat seine Mutter wochenlang: »Mama, du darfst nicht mehr in den Urlaub fahren.«

Das Ausmaß der alltäglichen Diskriminierung ist erschreckend. Fälle wie dieser gehen mir auch persönlich sehr nah. Ich bin sehr dankbar, dass wir im Sinti-Verein ein starkes Team sind. Wir stützen uns gegenseitig, helfen einander, wenn jemand nicht weiter weiß, und behalten unser Ziel stets im Auge: Wir denken an die Kinder und Eltern, für die wir eine bessere Zukunft schaffen wollen. Das gibt uns die Kraft, weiterzukämpfen.

Wir haben erlebt, dass unsere Kinder mit Pistolen, Tränengas und Hundestaffeln bedroht wurden. Wir haben Angst um unsere Kinder und fühlen uns verpflichtet, sie zu schützen. Wenn wir vorsichtig sind, dann haben wir unsere Gründe dafür.

Ich hoffe, dass Du, wenn Du diesen Text liest und von meinen Erfahrungen hörst, ein bisschen mehr Verständnis für uns entwickelst. Wir sind alle Menschen, von Gott erschaffen, und keiner von uns ist anders.

Die Rechtsextremen sind bereit, mit ihrem Hass die Schrecken der Vergangenheit wieder Wirklichkeit werden zu lassen. Wir möchten einfach nur Frieden und eine gute Zukunft für unsere Kinder. Es kostet nicht viel, freundlich zu sein und aufeinander zu achten. Ich träume von einer Welt, in der unsere Kinder ohne Angst leben können.

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Hier sprechen zehn Sinti* über ihre Familiengeschichten, die Folgen des NS-Völkermords und ihr Engagement gegen Antiziganismus heute.