Meine Großmutter wurde ins Ghetto Radom deportiert, wo auch mein Onkel geboren wurde. Er sprach kaum über diese Zeit, und wenn, dann nur in kurzen Sätzen. Die meisten Erlebnisse konnte er nicht teilen, da sie mit tiefer Scham behaftet waren. Die Grausamkeiten und Verbrechen waren so unmenschlich – das ist eine große Scham für die gesamte Menschheit.
Eine Perspektive von Anna*
»Meine Großmutter erzählte mir, dass sie mit mehreren Personen auf einer Pritsche schlafen musste. In der Mitte war eine Rille, die das Lagerbett durchzog. Der Ofen in der Baracke wurde nie angezündet.«
Anna über die Gedenkfahrt nach Auschwitz
Bei unserem Besuch im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau sind wir am Eingang auf das Torhaus gestiegen. Von dort oben konnten wir das gesamte Lagergelände überblicken. Niemand aus unserer Gruppe sagte ein Wort. Es herrschte eine tiefe, beklemmende Stille. In diesem Moment kamen mir die Erzählungen meiner Großeltern in den Sinn, wie sie von den Qualen berichteten, die sie dort erlitten hatten. Diese erschütternden Bilder hatte ich im Kopf, und als ich dort auf dem Turm stand, konnte ich mir die Grausamkeit dieser Realität plötzlich sehr deutlich vorstellen.
Mein Großvater verstarb in jungen Jahren an den Folgen von Auschwitz. Er hatte 13 Geschwister, von denen nur er und sein Bruder zurückkehrten. Alle anderen wurden ermordet. Sein Bruder war sogar schon in der Gaskammer und hat es irgendwie geschafft, da wieder herauszukommen. Er starb jedoch später viel zu jung an Lungenkrebs. Ihn habe ich noch kennengelernt.
Anna, Sintezza aus Leer (Ostfriesland), arbeitet als Bildungsbegleiterin im 1. Sinti-Verein Ostfriesland e.V. Nach einer Ausbildung zur pädagogischen Fachkraft begleitet sie Kinder und Jugendliche in Kindergärten und allgemeinbildenden Schulen. Anna ist Mutter von zwei Kindern.
Auch meine andere Großmutter war in Auschwitz inhaftiert. In den Archiven haben wir viele Dokumente gefunden, die ihren Deportationsweg nachzeichnen. So erfuhren wir zum ersten Mal, dass sie kurz vor der Befreiung des Lagers auf einem Todesmarsch war. Ebenso waren mein Großvater und die Großmutter meines Mannes auf diesem Marsch. Es berührte mich tief, zu erfahren, dass sie diesen Marsch gemeinsam überlebten.
Mein Großvater schwieg stets über das, was in Auschwitz geschehen war. Nur meine Großmutter erzählte manchmal von der Zeit dort. Sie berichtete, dass mein Großvater als Koch arbeitete und Kartoffelschalen wegbringen musste. Wer auch nur versuchte, diese Schalen zu stehlen, wurde erschossen. Sie erzählte auch von den Gräueltaten an Kindern, die in die Luft geworfen und wie Tauben abgeschossen wurden. Angesichts dieser Grausamkeit verstehe ich, warum unsere älteren Menschen oft so hart und verschlossen geworden sind.
In einer Ausstellung zum Völkermord an den Sinti und Roma im Stammlager fanden wir zahlreiche Namen unserer Familie sowie anderer bekannter Familien. Darunter waren die Namen meines Schwiegervaters, meines Onkels und meiner Großmutter – es waren unmenschlich viele Namen. Obwohl ich wusste, dass sie in Auschwitz inhaftiert waren, war es erschütternd, ihre Namen dort schwarz auf weiß zu lesen. Es war zugleich erschreckend und eine Würdigung der Opfer. Ich fotografierte die Namen, um dieses Gefühl festzuhalten und in Erinnerung zu behalten.
Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz
Der Lagerkomplex von Auschwitz bestand aus dem Konzentrationslager Auschwitz I (Stammlager), dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II), sowie weiteren Nebenlagern.
Auschwitz I wurde 1940 in den Gebäuden einer ehemaligen polnischen Kaserne errichtet. Ab 1941 wurde das Auschwitz II in Birkenau errichtet. Bis 1945 wurden in den Lagern insgesamt 1,1 Millionen Menschen ermordet.
1947 entstand auf dem Gelände von Auschwitz I und II das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Heute werden im ehemaligen Stammlager thematische Dauerausstellungen gezeigt.
Ich habe den Film »The Zone of Interest« gesehen, der das Leben des Lagerkommandanten von Auschwitz und seiner Familie beschreibt, die direkt an der Lagermauer wohnten. Diese Lagermauer sahen wir auch bei unserem Besuch in der Gedenkstätte. Der Film macht den erschreckenden Kontrast so greifbar: Während die Familie des Kommandanten scheinbar normal lebte, hörten sie doch die Schreie, sahen die Asche und rochen den Geruch von verbrannten Körpern. Trotzdem haben sie einfach weitergelebt, ihre Kinder in den Arm genommen, geschmust. Auf der anderen Seite der Mauer, da waren andere Kinder – die Kinder unserer Familien, die misshandelt und zu Tode gequält wurden.
Anna über die Bedeutung der Erinnerung an den Völkermord
Menschen, die keine Sinti sind, wissen oft nicht, was meiner Familie widerfahren ist. Das Schicksal der Sinti interessiert viele nicht; sie betrachten die Geschichte als etwas Vergangenes und sagen: »Das ist vorbei.« Doch die Überlebenden sind noch unter uns, und solange sie leben, ist es keine Vergangenheit. Auch wir, die Kinder und Enkelkinder, tragen diese Geschichten in unseren Herzen. Sie prägen uns.
Wer auch nur versucht, sich das Ausmaß dieses Schreckens vorzustellen, kann nicht behaupten, die Geschichte sei vorbei. Für uns bleibt die Geschichte immer Gegenwart.
Ein Leben lang kämpfen wir mit den Erinnerungen an das Leid unserer Vorfahren. Diese Geschichten haben wir immer wieder gehört – in Andeutungen, Erzählungen und im lauten Schweigen unserer Großeltern. Auschwitz hat tatsächlich stattgefunden.
Unsere Menschen wurden von den Nazis auf eine Weise körperlich und auch psychisch und seelisch gebrochen, selbst uns fällt es schwer, das Ausmaß dieser Grausamkeiten zu begreifen. Wenn ich versuche, anderen das Leid meiner Familie näherzubringen – von meinem Großvater wurden zwölf Geschwister ermordet! – stoße ich oft auf Gleichgültigkeit. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, doch spüre ich, wie der Ärger in mir aufsteigt.
Ich halte es für wesentlich, dass die Geschichte der Verfolgung von Sinti und Roma in Schulen und Schulbüchern ihren Platz findet. Die Kinder von heute werden später selbst Eltern und ihre Kinder erziehen. Daher ist es wichtig, aufzuklären, wer Sinti und Roma sind, um zum Beispiel auch die Unterschiede zwischen den Gruppen zu verstehen. Die Kinder müssen lernen, dass nicht nur Juden, sondern auch Sinti verfolgt wurden – ebenso wie viele andere Gruppen, etwa Christen in Polen.
Juden, Sinti und Roma wurden aufgrund ihrer Herkunft verfolgt, und die Nazis hatten das Ziel, sie vollständig zu vernichten. Dieses Ziel haben sie fast erreicht. Es war eine rassistische Verfolgung. Die Aufklärung über diese Geschichte ist von großer Bedeutung, damit die Menschen verstehen, wie gefährlich Antiziganismus auch heute noch ist. Wenn Behörden uns beispielsweise immer wieder das Gefühl geben, wir seien »arbeitsscheu«, so ist das eine antiziganistische Einstellung, die eine lange Geschichte hat.
»Arbeitscheu« als NS-Begriff
Im Nationalsozialismus wurden Menschen als »arbeitsscheu« verfolgt und in Konzentrationslager eingewiesen. Menschen, die nicht in das Menschenbild der Nazis passten, wurden als »asozial« abgewertet.
Mit der sogenannten »Aktion Arbeitsscheu Reich« verhaftete die Polizei im Juni 1938 mehr als 10.000 Menschen, darunter auch Sinti* und Roma*. Sie wurden in Lager deportiert und dort mit dem braunen oder schwarzen Winkel gekennzeichnet. Im Jahr 2000 erkannte der Bundestag die als »asozial« Verfolgten als NS-Opfer an.
Anna über den tagtäglichen Antiziganismus und ihr Engagement dagegen
Der Rechtsruck in der deutschen Politik verschärft den Antiziganismus. Ich spüre, dass die Menschen zunehmend Angst vor der Zukunft haben. In solchen Zeiten sind wir Sinti oft die erste Zielscheibe.
Diese Erfahrung begleitet mich seit meiner Kindheit, doch mittlerweile hat sich die Lage weiter zugespitzt. Antiziganismus ist für uns Alltag. Beim Arzt oder im Krankenhaus wird uns häufig die Behandlung verweigert. Behörden begegnen uns mit Schikanen und nehmen unsere Anliegen nicht ernst. Sie hören unseren Nachnamen und begegnen uns sofort mit Misstrauen. Selbst beim Einkaufen spüre ich dies, wenn Mitarbeiter mir auffällig nahekommen und fragen, ob sie mir helfen können – stets mit einem misstrauischen Unterton.
Neulich war ich in der Stadt mit einer Kollegin unterwegs. Von einer älteren Dame wurden wir aufgefordert, Platz zu machen, da wir »hier in Deutschland sind«, wie sie sagte. Dieser Vorwurf, wir würden nicht hierhergehören, begleitet uns ständig.
Antiziganismus
Antiziganismus ist eine spezifische und historisch gewachsene Form des Rassismus: Vorurteile, Stereotypisierungen, Diskriminierung, Hetze und gewaltvolle Übergriffe gegen Sinti* und Roma* werden als Antiziganismus bezeichnet. Die Bezeichnung ist in Deutschland umstritten, da sie die diskriminierende Bezeichnung »zigan« enthält. Alternativ wird oft von Rassismus gegen Sinti* und Roma* gesprochen. Der Rassismus trifft auch Menschen, die als Angehörige der Minderheit wahrgenommen werden, aber selbst nicht Sintezza, Sinto, Romni oder Rom sind.
Seit Jahrhunderten gibt es Antiziganismus. Im Nationalsozialismus gipfelte er in dem Völkermord an den Sinti* und Roma* Europas. Auch heute ist Antiziganismus in Deutschland stark verbreitet: 40 Prozent der Befragten stimmen der Aussage »Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten entfernt werden« zu (Leipziger Autoritarismus-Studie 2024). Antiziganismus wirkt auch institutionell und strukturell, zum Beispiel in Behörden, im Bildungs- und Gesundheitswesen, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, bei der Polizei.
Am Tag meiner Einschulung trat mich ein Mitschüler in den Magen, während die Lehrerin danebenstand und nichts unternahm. Am nächsten Tag, einem Montag, sollte ich wieder zur Schule gehen. Ich weinte, und meine Mutter sagte zu mir: »Du hast jetzt zwei Optionen: Entweder du bleibst zu Hause oder du gehst zurück in die Schule und wehrst dich. Das wird dein ganzes Leben so bleiben: Entweder du kämpfst für dich oder du gibst deine Zukunftschancen auf.« Meine Mutter verabscheute Gewalt.
Ich ging an diesem Montag zur Schule. Ich wollte mich in die erste Reihe setzen, doch die Lehrerin platzierte mich nach hinten mit den Worten:
»Aus dir wird sowieso nichts, du Z-Kind.«
Später erhielt ich eine andere Lehrerin. Meine Mutter hatte dafür kämpfen müssen, da man mich auf eine Sonderschule schicken wollte, obwohl meine Noten gut waren. Diese neue Lehrerin zeigte mir immer wieder, dass ich etwas wert bin. Sie sagte: »Du bist nicht dumm, lass dir das von niemandem einreden.« Diese Lehrerin hat mich sehr geprägt. Aus dieser Erfahrung weiß ich, wie wichtig es ist, Lehrer aufzuklären und bei ihnen ein Umdenken anzustoßen.
Nach der Berufsschule begann ich eine Lehre als Schneiderin, fand später aber nur Arbeit als Putzhilfe. An drei Arbeitsstellen wurde ich entlassen, weil sie keine Z in ihrem Haus haben wollten. Es herrschte immer das Misstrauen, ich würde stehlen. Erst jetzt, seitdem ich im Sinti-Verein arbeite, kann ich endlich etwas wirklich Sinnvolles tun. Wir gehen in die Schulen, klären auf und unterstützen Kinder und Familien.
Besonders junge Menschen aus unserer Community leiden stark unter dem gesellschaftlichen Ausschluss. Es ist für sie unglaublich schwer, eine Ausbildung zu finden, einen Führerschein zu machen oder allgemein in der Gesellschaft Fuß zu fassen, da wir im Bildungsbereich so stark diskriminiert werden. Ich beobachte auch zunehmend Depressionen unter den jungen Menschen.
Anmerkung
Die Autorin entscheidet sich, das Wort mit »Z« abzukürzen, da sie die diskriminierende Wirkung des Begriffes nicht erneut erzeugen möchte.
Tagtäglich kämpfen wir gegen Antiziganismus. Die Kraft für diesen Kampf ziehe ich aus meinem Glauben. Mein Glaube hilft mir, meinen Ärger, meine Wut und Hilflosigkeit an Gott abzugeben und weiterhin das Positive im Menschen zu suchen.